Fast zwei Jahre ist es schon her, seitdem ich zum ersten Mal kenianischen Boden unter den Füßen spürte. Drei Monate verbrachte ich in dem ostafrikanischen Land – sie gehören zu den besten drei Monaten meines Lebens. Ich wurde in Nairobi herzlich aufgenommen, habe dort mit interessanten Menschen zusammengearbeitet, meine Freizeit genossen, viele Abenteuer erlebt und neue Freundschaften geschlossen. Umso härter trafen mich die Bilder und Berichte der letzten Wochen.
Meine Erinnerungen an Kenia sind gefüllt mit bunt-bemalten Häusern am Straßenrand und ebenso farbigen Blüten an den Bäumen, mit strahlendem Sonnenschein aber auch sturzbachartigen Regenfällen, mit dem halsbrecherischen Straßenverkehr und lautem Autohupen, mit türkis-blauem Meer und langen weißen Sandstränden, mit dem hektischen Treiben auf Wochenmärkten und den bunten Souvenirständen, frischen Maiskolben mit Zitrone und Chilipulver (Lecker, aber scharf!) und Ziegenfleisch (Nie wieder!!! Schmeckt genauso wie die Ziege riecht!!), relaxten Nachmittagen mit Freunden und „spaßigen“ Abenden ohne Strom, mit den Weiten der Savanne und den Hochhäusern von Nairobi Downtown, mit Elefantenherden, grazilen Giraffen, faulen Löwen, frechen Affen, die versuchten mein Essen zu klauen und kleinen Eidechsen mit denen ich mir mein Badezimmer teilte.
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Ich fühlte mich sicher! Doch wie sicher war man wirklich? Wie sicher ist man überhaupt in einer Welt, die auf so unglaubliche Weise in den letzten Jahrzehnten zusammengewachsen ist? Bereits 2011 erhielten wir Warnungen vom Auswärtigen Amt: so sollten wir nicht an die Grenze zu Somalia fahren (Entführungsgefahr), sollten die öffentlichen Busse nicht nutzen und wir sollten es auch vermeiden zu viel Zeit in Einkaufszentren zu verbringen. Eine Warnung, die ich nicht wirklich ernst nahm.
So verbrachte ich fast jeden Samstag in genau dem Einkaufszentrum, das jetzt in Schutt und Asche liegt. Ich erledigte meine Lebensmitteleinkäufe, traf mich mit Freunden auf einen Kaffee, ging ins Kino oder aß ein Eis während ich mir die bunten Schaufensterauslagen anschaute und durch die Verkaufsstände schlenderte. Zu Weihnachten war das ganze Shoppingcenter festlich geschmückt und Weihnachtsmusik lud dazu ein, länger zu verweilen. Kurz und gut: Ich ließ mir fast immer viel Zeit. Am Eingang wurden die Besucher schließlich kontrolliert – wenn auch nur flüchtig – wie sollte es also jemand überhaupt mit Waffen oder Bomben ins Einkaufszentrum schaffen? Was für eine Illusion! Gerade das Westgate galt seit langem als gefährdet.
Übersät mit Leichen
Ich starre wie gebannt auf den Bildschirm, und kann nicht fassen, was ich da sehe und lese. Das ist ein Albtraum! Ein schlechter Scherz! Gleich wache ich auf, und nichts von alledem ist geschehen. Doch die Realität sieht leider anders aus. Die erschreckenden Videos und Bilder aus dem Westgate Shopping Mall brennen sich tief in mein Herz. Gleichzeitig laufen in meinem Inneren verschiedene Gefühle Amok: Trauer, Schock, Unverständnis, Abscheu und Furcht. Waren vielleicht Freunde von mir im Einkaufszentrum?
Beim Lesen der Augenzeugenberichte dreht sich mir der Magen um. Die Geiseln wurden demnach nicht nur „einfach“ getötet sondern auf brutalste Weise gefoltert. Auch Kinder und Schwangere! Am Tag des Anschlags fand im Shoppingcenter ein Kinderfest statt – es wurde zusammen gelacht, gespielt, gekocht und gebacken. Und plötzlich war es vorbei: das Lachen wird zum Weinen, Eltern legen sich schützend über ihre Kinder, Menschen verstecken sich stundenlang in dunklen Ecken, damit die Terroristen sie nicht entdecken, leblose Körper liegen Seite an Seite und der Boden ist bedeckt mit Blutlachen und Glasscherben. Die Terroristen erklärten in einer eigenen Twitter-Botschaft, dass das Innere des Gebäudes mit Leichen übersät sei. Eine Horrorvorstellung!
Über drei Tage mussten viele Überlebenden die Hölle durchstehen und es ist noch immer nicht vorbei. Es wird lange dauern, bis sie die schrecklichen Eindrücke verarbeitet haben. Sie mussten mit ansehen, wie andere getötet und gefoltert wurden, oder sind fast selbst erschossen worden. Aber kann es überhaupt gelingen, solch eine schockierende und grausame Erfahrung zu verarbeiten?
Sieg oder Niederlage?
Die Al-Shabaab rechtfertigt ihren Anschlag mit dem Einmarsch der kenianischen Armee vor zwei Jahren und forderte die kenianische Regierung dazu auf, ihre Truppen sofort abzuziehen. 2011 mehrten sich in Kenia die Entführungen und Ermordungen ausländischer Touristen durch die somalischen Islamisten. Ein paar Tage vor meiner Ankunft explodierte in einem Bus eine Bombe. Die Opfer: Wieder unschuldige Kinder.
In den letzten Jahren hatten die Islamisten in Somalia schwere Kämpfe zu führen – mit dem Militär und auch innerhalb der eigenen Gruppe. Soldaten der Afrikanischen Union (darunter auch die kenianische Armee) gingen bisher recht erfolgreich gegen die Al-Shabaab vor und konnten sie sogar aus einer wichtigen Hafenstadt vertreiben, die eine wichtige Einnahmequelle für sie war. Spannungen und Streitereien an der Führungsspitze und hinsichtlich ihrer Kooperation mit Al-Kaida erschwerten den Terroristen ebenfalls die Durchführung von Gewaltakten. Eine Schande, dass es sie nicht länger davon abhalten konnte.
Video: Attentat in Nairobi
Kenias Präsident Uhuru Kenyatta zeigte sich nach der Befreiung der restlichen Geiseln am Dienstag vor zwei Wochen zuversichtlich und verkündete im Fernsehen: „Wir haben die Angreifer besiegt und gedemütigt. Wie haben der ganzen Welt gezeigt, zu welcher Leistung wir fähig sind“.
Aber stimmt das wirklich? Die kenianischen Sicherheitskräfte brauchten über drei Tage bis sie die Lage halbwegs unter Kontrolle hatten. Über 60 Menschen sind ums Leben gekommen und viele Hunderte schwer verletzt. Das Westgate Einkaufszentrum ist völlig zerstört, wie nach einem Krieg. Das ist in meinen Augen keine großartige Leistung. Wieso mussten die Menschen so lange ausharren, bis sie gerettet werden konnten? Was ist da schief gelaufen? Ist Kenia jetzt wirklich auf weitere Anschläge vorbereitet?
Unter dem Deckmantel der Religion
Die Al-Shabaab wird diesen Anschlag nicht als Demütigung oder Niederlage auffassen. Für sie ist es ein Sieg. Sie haben das erreicht, was sie sich vorgenommen haben: Mit nur einem Anschlag konnten sie mehrere Nationen mitten ins Herz treffen und dabei auch wieder Unruhe zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen schüren. Augenzeugenberichten zufolge, sollen die Attentäter ihre Opfer nach der religiösen Zugehörigkeit ausgesucht und Muslime dabei verschont haben. Kenia ist ein Land in dem viele verschiedene Religionsgemeinschaften friedlich nebeneinander existieren können und das schon seit Jahrzehnten. Es ist zu wünschen, dass es trotz dieser Gräueltaten weiterhin möglich sein wird.
Ich bin jedoch bestürzt über die Kommentare, die ich im Internet gelesen habe, auch auf den Seiten renommierter Tageszeitungen und Magazine. So schreibt ein Mann: „Diese Terroristen waren nichts anderes als Gläubige. Sie haben nur das getan, was ihr Gott ihnen im Koran befiehlt.“ Kennt er den Inhalt des Korans überhaupt? Und in einem weiteren Kommentar ist zu lesen: „Unverständlich, dass sich dafür auch Menschen aus der westlichen Welt hergeben. Unbegreiflich“. Wie jetzt? Sind wir Menschen der westlichen Welt die „Gutmenschen“ und alle, die in muslimischen Ländern leben, sind dumm und lassen sich daher zu solchen Gräueltaten hinreißen? Sicher, die Al-Shabaab glaubt tatsächlich im Namen Allahs und des Korans zu handeln. Nur muss man unterscheiden zwischen solchen fanatischen Islamisten und den normalen religiösen Muslimen. Anschläge, wie die in Kenia, New York, London oder Madrid haben meines Erachtens nach nichts mit Religion zu tun. Sie wurden von einzelnen Menschen begangen, die sich die Worte Allahs so zurechtlegen, wie es ihnen gerade passt. Die Al-Shabaab macht grundsätzlich auch keinen Halt vor Muslimen, die nicht ihren Regeln folgen wollen. So wurden in Somalia bereits zahlreiche Menschen muslimischen Glaubens umgebracht. Gerüchten zufolge, sollen die Terroristen andere Muslime in Kenia nur verschont haben, um sich im eigenen Land als „moderate“ Freiheitskämpfer darstellen zu können: „Seht her, wir töten nur Christen und Juden. Ihr braucht also keine Angst vor uns zu haben!“ Die Terroristen würden sich beim Lesen solcher Kommentare sicherlich die Hände reiben, so wollen sie doch einen Keil zwischen die Menschen treiben und beschreiben sich selbst als übermächtige Gotteskämpfer.
Journalistin und Autorin Andrea Böhm (u.a. für Die Zeit) drückt es auf ihrem Blog so aus: „Terrorismus ist der Versuch, mit einigen, wenigen Gewaltakten ein kollektives Gefühl von Sicherheit zu zerstören. Terrorismus – das ist auch die Kunst, Gewalt so inszenieren, dass ihre Urheber mächtiger erscheinen, als sie womöglich sind“. Hoffen wir, dass sie Recht behält und die Al-Shabaab tatsächlich nicht so übermächtig und unberechenbar sind, wie sie einem jetzt vorkommen, und dass die gesamte Welt zusammenhält und gemeinsam gegen diese Art von Verbrecher kämpft. Alleine sind wir ein leichtes Ziel, gemeinsam sind wir stark.
Tyler Hicks, Fotograf der New York Times, war einer der ersten vor Ort. Seine Fotos und ein Interview mit ihm gibt es hier.
Titel-Bild: © ibphoto – Fotolia.com
Fotos (Slide-Show): © Madina Sekandari
Madina Sekandari
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